20.10.2020
Was passiert, wenn Kunststoff von der Erde verschwindet? Was in der Vorstellung mancher Menschen durchaus Charme hätte, ist in der Realität eine Zukunftsvision, die unseren Alltag nachhaltig und zum Negativen verändert. Die Umwelt würde womöglich in mancher Hinsicht profitieren, die Menschheit müsste aber auf viele Errungenschaften verzichten. Im medizinischen Bereich wäre die Lage ohne Kunststoff so fatal, dass erstmals seit 1871 die Lebenserwartung sinken würde. Bei einem Online-Treffpunkt „Welt ohne Plastik“ des Kunststoff-Clusters wurde über die Szenarien und Lösungsvorschläge diskutiert. Schlussfolgerung der Expert*innen: Eine Zukunft ohne Kunststoff ist undenkbar, aber das Müllproblem muss gelöst werden.
Plastikprodukte sind außergewöhnlich haltbar, leicht formbar und extrem preiswert: Kein Wunder, dass sie sich deshalb seit ihrer Entdeckung auf einem globalen Siegeszug befinden. Rund 380 Millionen Tonnen Kunststoff produziert die Menschheit weltweit pro Jahr und sorgt damit für ein gesellschaftlich immer präsenter werdendes Müllproblem. Die Forderung, das Material sollte von unseren Planeten verschwinden, erscheint deshalb legitim. Bei der Veranstaltung des Kunststoff-Clusters nahmen Timna Reisenberger und Florian Kamleitner sowie drei Expert*innen die 93 Gäste auf eine fiktive Zeitreise mit und zeigten die Kehrseite der Medaille.
Die Welt im Jahr 2030: Lego-Land hat sich vom Vergnügungspark in eine Gedenkstätte verwandelt. Von Europa in die USA geht es für „Normalsterbliche“ mit dem Schiff, Flüge mit den neuen Stratosphären-Shuttles kann sich kaum jemand leisten. Mobiltelefone liegen doppelt auf der Tasche: Teuer und schwergewichtig. Weil auch Autos sehr kostspielig geworden sind, feiert die Eisenbahn ein fulminantes Comeback. Auch auf dem Jobsektor sieht es durch das Verschwinden der Kunststoff-Hersteller düster aus. 90 Prozent der Facharbeiter mussten in eine andere Branche wechseln. Teleworking ist nicht mehr die Zukunft der Arbeitswelt sondern geriet durch das „Abrüsten“ im Mobilfunkbereich hoffnungslos ins Hintertreffen. Immerhin empfinden viele Menschen den neuen Alltag in Summe als angenehm: Weniger Stress und Rückbesinnung zu bescheidenerem Leben.
„Was Verkehr und Kommunikation betrifft, würde der Verzicht auf Kunststoff zu einer Entschleunigung führen, was von der Gesellschaft als sehr angenehm empfunden wird.“ – Auszug aus dem Szenario „Welt ohne Plastik“
Timna Reisenberger, Projektassistentin Kunststoff-Cluster, Business Upper Austria
Auf einem OP-Tisch zu liegen ist keine besonders angenehme Vorstellung. Neben dem Können der Mediziner ist hier vor allem Hygiene entscheidend: Einwegplastik ist für Krankenhäuser unersetzbar: Jeder Gegenstand aus frisch geöffneten Behältern kommt aus einer sterilen Umgebung. Ohne Kunststoff werden sich Krankenhauskeime bedrohlich vermehren, Infusionen und Impfungen verteuern und Medikamente weniger lange haltbar sein. Die Folge: Erstmals seit 1871 könnte die Lebenserwartung wieder sinken. Folgenschwer ist die Situation auch im Lebensmittelbereich: Obst und Gemüse kann nur mehr saisonal angeboten werden, Fleisch gibt es nur mehr als Frischprodukt – die Preise haben sich dramatisch erhöht.
„Der Verzicht auf Kunststoff könnte in Krankenhäusern und in der medizinischen Versorgung generell fatale Folgen haben. Erstmals seit 1871 würde die Lebenserwartung wieder sinken.“ – Auszug aus dem Szenario „Welt ohne Plastik“
Florian Kamleitner, Projektmanager Kunststoff-Cluster, ecoplus Sankt Pölten
Bei der folgenden Diskussion wurde eingeräumt, dass das Umweltproblem gravierend und Kreislaufwirtschaft ein Gebot der Stunde ist. Auch die Fertigung von Kunststoffen aus anderen Quellen wie Erdöl ist ein Thema – hier spielen allerdings die Kosten eine entscheidende Frage, wie Katharina Resch-Fauster von der Montanuniversität Leoben betont.
„Ein Verbot von Kunststoffen wäre eine fatale Entscheidung, deren Tragweite sich die Regierungen sehr genau überlegen müssen. Aber auch das Umweltproblem kann nicht wegdiskutiert werden.“
Katharina Resch-Fauster, Montanuniversität Leoben
Im Lebensmittelbereich verursachen Lebensmittelabfälle rund ein Drittel der weltweiten Treibhausgase. Hier sind vor allem die Haushalte gefragt, wenn es um eine Reduktion der Müllberge geht. In Österreich landen pro Jahr 206.000 Tonnen Lebensmittel im Mistkübel. „Die Bewusstseinsbildung in diesem Bereich ist noch schwach ausgeprägt“, kritisiert Johannes Mayerhofer von der Universität für Bodenkultur Wien. Bei den Verpackungen spielen vor allem die Hygiene und die Haltbarkeit eine wichtige Rolle. Ohne Folien müsste das Sortiment drastisch reduziert werden – die Preise würden durch die Decke gehen. Alternativen wie verzehrbare Verpackungen und biobasierte Kunststoffe sind noch in den Startlöchern.
„Die Menge an Lebensmitteln, die weggeworfen werden ist enorm. Bei der Abfallvermeidung müssen auch die Haushalte in die Pflicht genommen werden.“
Johannes Mayerhofer, Universität für Bodenkultur Wien
In der Medizin hielten Kunststoffe im Laufe der vergangenen 70 Jahre rasanten Einzug. Ob im Bereich medizintechnischer Produkte – wie einem modernen Hybrid-OP – oder in Form von sterilen Verpackungen und Schutzausrüstungen: „Kunststoffe sind in der Medizin und Hygiene inzwischen unersetzbar“, betont DGKP Thomas Freundlinger, Experte für Hygiene am Kepler Universitätsklinikum. Neben zahlreichen Verbesserungen in der Erstversorgung, Untersuchung und Diagnostik, Therapie, Verkürzung der Spitalsaufenthalte und einem reduzierten Infektionsrisiko, verweist Thomas Freundlinger auch auf den hohen Stellenwert einer geordneten Entsorgung in den Spitälern. Dies ist auch ausschlaggebend dafür, den Recyclinganteil zu erhöhen. Hinsichtlich antimikrobieller Beschichtungen, die eine Anwendung von Recyclingmaterialien im medizinischen Bereich zulassen würden, gibt es jedoch noch hohen Innovationsbedarf. Silberbeschichtungen, Nachbau von Haifischhaut und der Einsatz anderer mikrobieller Stoffe können die sterilen Verpackungen bisher nicht kompensieren.
„In der Medizin sind wir auf sterile Verpackungen angewiesen und müssen in einem Bündel von Hygienemaßnahmen arbeiten. Die ‚eierlegende Wollmilchsau‘ wurde allerdings noch nicht gefunden. Momentan ist von den Materialien noch nicht wirklich das am Markt, was uns tatsächlich weiterhilft. Das Thema Recycling beschäftigt uns jedoch seit einigen Jahren.“
Thomas Freundlinger, Kepler Universitätsklinikum / HYGline GmbH
Die Aktivitäten werden im Rahmen des Horizon 2020 Projekts „SeeRRI – Responsible Research & Innovation“ mit Europäischen Mitteln unterstützt (https://seerri.eu).
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